Die Buchen-Urwälder der ukrainischen Karpaten beeindrucken durch Schönheit und Harmonie. Seit 2007 gehören sie zum Weltnaturerbe der Unesco. Eine Inventur soll nun genauere Daten über die Wälder geben.
Das Ziel ist der Buchen-Urwald von Schyrokyj Luh. Zusammen mit dem angrenzenden Urwald von Uholka umfasst er eine Fläche von rund 10.000 Hektaren und ist damit der grösste Buchen-Urwald Europas.
In Schyrokyj Luh in Transkarpatien, der westlichsten Provinz der Ukraine, sind normalerweise kaum Menschen anzutreffen. Nicht so diesen Sommer. Wissenschafter aus der Schweiz und der Ukraine nehmen in einem mehrjährigen Projekt diesen für europäische Verhältnisse einmaligen Wald unter die Lupe. Die Entfernung des Baumes zum Stichprobenzentrum, Durchmesser und Höhe des Baumes werden bestimmt. Bis zu 50 Meter hohe Bäume wurden gemessen eine stattliche Höhe für Buchen.
Noch nie seien so umfassende Aufnahmen in Buchen-Urwäldern auf einer so grossen Fläche gemacht worden. Insgesamt 354 Stichprobenflächen sind es, jede misst 500 Quadratmeter. Die Auswertung der Daten soll neue Erkenntnisse über die Struktur und Dynamik dieser Wälder zutage fördern. Von besonderem Interesse seien die natürlichen Störungen in diesem Urwald. So sei etwa unklar, wie resistent Buchen-Urwälder gegenüber Stürmen und Insektenbefall sind. Allgemein gelten sie als sehr stabil. Doch auf welche Weise lösen sich die Baumgenerationen ab? Geschieht die Verjüngung des Waldes in der Regel auf kleinen Flächen? Oder kommt es doch hin und wieder zur Ausbildung gleichförmiger Bestände, denen grossflächige Zusammenbrüche folgen?
Nach einer mehrstündigen Wanderung der Forscher verdichtet sich der Eindruck von Urwald: Abgestorbene Bäume, mit Moos bedeckt und von sogenannten Konsolenpilzen übersät, prägen das Waldbild. Mächtige Buchen, wie man sie in einem bewirtschafteten Wald kaum zu sehen bekommt. Und dazwischen immer wieder Stellen mit jungen Bäumen, die von dem Licht in kleineren Lücken des Waldes profitieren. Ein kleinräumiges Mosaik. Die Tatsache, dass hier der Mensch nie mit Axt und Säge gewirkt hat, verleiht diesem Wald etwas Ehrfurchtgebietendes. Seine Dimensionen werden erst richtig bewusst, wenn nach einem Aufstieg über die Waldgrenze hinaus der Blick über ihn schweift. Da wächst nicht nur ein Wald nach seinen eigenen Gesetzen. In diesen Wäldern leben auch Bären und Wölfe.
1930 reiste der Schweizer Forstingenieur Conrad Roth im Auftrag einer Schweizer Holzhandelsfirma nach Transkarpatien. Er sollte abklären, ob die Waldungen eines ehemaligen ungarischen Grossgrundbesitzers sich für eine Holznutzung eigneten und stiess dabei auf noch unberührte Wälder. Tief beeindruckt von dem Vorgefundenen, beendet er seinen Bericht mit folgenden Worten: “Der eigenartige Eindruck der gewaltigen Wälder der Waldkarpaten in ihrer Natürlichkeit und Ruhe, nur belebt durch das Rauschen der Bergbäche und des Windes und hie und da unterbrochen durch das ferne Krachen eines zu Boden stürzenden alten Urwaldriesen, bleibt unvergesslich”.
Zur selben Zeit begann Alois Zlatnik, ein tschechoslowakischer Forstwissenschafter, mit der Erforschung der Wälder in dieser Region, die damals zur Tschechoslowakei gehörte. 1936 legte Zlatnik in einigen Urwaldbeständen Dauerbeobachtungsflächen an. Er gehört damit zu den Pionieren der europäischen Urwaldforschung. Die geplanten Folgeaufnahmen konnte er jedoch nicht realisieren, weil Transkarpatien 1939 an Ungarn und später an die Sowjetunion fiel – und als Tschechoslowake durfte Zlatnik nicht mehr einreisen.
Vergessene Urwälder
Im Buchen-Urwald von Schyrokyj Luh machte Zlatnik keine Aufnahmen. Aufgrund seiner Empfehlung wurde dort aber bereits in den 1920er Jahren ein Waldreservat ausgeschieden. Zusammen mit einigen anderen Reservaten bildete dieses später in der Ukraine den Kern des Karpaten-Biosphärenreservates. Während des Kalten Krieges gerieten die Urwälder in dieser Region in Vergessenheit. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs änderte sich dies. 1992 wurde das Biosphärenreservat durch die Unesco anerkannt, und 1994 besuchten Fachleute aus der Schweiz, Österreich und Liechtenstein diese damals in Westeuropa unbekannten Buchen-Urwälder. Sie wollten dort unter anderem Antworten auf die Frage finden, wie sich der Wälder entwickeln könnte, wenn dieser nicht mehr bewirtschaftet wirden.
Seit zehn Jahren untersuchen Forscher das Karpaten-Biosphärenreservates wie die Waldstruktur sowie deren Dynamik auf einer zehn Hektaren grossen Fläche im Buchen-Urwald. Der Urwald in den Karpaten zeichnet sich insbesondere durch einen deutlich grösseren Anteil an dicken Bäumen aus. Drei oder vier Bäume pro Hektare sind dort dicker als ein Meter.
Der zweite markante Unterschied betrifft das abgestorbene Holz, das sogenannte Totholz. Während in Buchen- Urwald 110 Kubikmeter pro Hektare gemessen wurden, waren es im Forstwald lediglich knapp 10 Kubikmeter. Infolge der aufgegebenen Bewirtschaftung wird dieser Wert nun aber kontinuierlich ansteigen. Die Buche wird sich aufgrund ihrer Konkurrenzkraft – sie kommt in der Jugendphase mit weniger Licht aus als andere Baumarten – je länger, je mehr durchsetzen. Damit nimmt die Baumartenvielfalt ab. Dafür entstehen neue ökologische Nischen und Lebensräume. Vor allem die sehr alten Bäume und das allgegenwärtige Totholz machen Urwälder insbesondere für holzbewohnende Tiere, Pflanzen und Pilze zu einem speziellen und wertvollen Lebensraum.
Urwaldforschung hat in Europa bisher fast ausschliesslich auf kleinen, wenige Hektaren umfassenden Flächen stattgefunden, ob die dort gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich repräsentativ sind, ist Fraglich. Die nun in den ukrainischen Karpaten durchgeführte Stichprobeninventur, ist deshalb einmalig.
Der Buchen- Wald befindet sich ganz offensichtlich in einem Gleichgewicht, also in einem Zustand, den Förster auch in bewirtschafteten Wäldern anstreben. Es sei beeindruckend zu sehen, wie harmonisch und kontinuierlich die Waldentwicklung im Buchen-Urwald ablaufe. Und stellenweise sehe es fast so aus wie in einem naturnah bewirtschafteten Buchenwald. Von einem besseren Verständnis der natürlichen Abläufe in den Urwäldern profitiere auch die Waldwirtschaft. Dies erlaube nämlich, die heutigen Bewirtschaftungskonzepte weiter zu optimieren und den Wald mit möglichst sanften Eingriffen in die gewünschte Richtung zu lenken.
Der Wert der letzten grossen Buchen-Urwälder in Transkarpatien wird immer mehr erkannt. 2007 wurden sie zusammen mit weiteren Urwaldresten der ukrainischen und der slowakischen Karpaten zum Unesco- Weltnaturerbe erklärt. Ein Buchen- Urwald wie er in Deutschland, der Schweiz und Frankreich in Westeuropa nicht mehr zu erleben ist.